Die Attraktivgerichtsstände des europäischen Insolvenzrechts
Eine Untersuchung der Regelungen des Art. 6 EulnsVO
von Daniela U.J. BramkampArtikel 6 EuInsVO (neue Fassung) widmet sich einem Dauerbrenner im europäischen internationalen Zivilverfahrensrecht: der Zuständigkeit für insolvenzbezogene Annexverfahren. Insolvenzbezogene Annexverfahren sind im Ausgangspunkt klassische kontradiktorische Einzelverfahren, welche sich indessen von „ganz gewöhnlichen“ Zivilprozessen durch ihre besondere Nähe zum Insolvenzverfahren abheben. Klassisches Beispiel sind Insolvenzanfechtungsklagen.
Schon früh hat der Europäische Gerichtshof die Weichen dafür gestellt, insolvenzbezogene Annexverfahren – trotz ihres grundsätzlichen Charakters als Zivilprozess – nicht den allgemeinen europäischen internationalen Zuständigkeits-, Anerkennungs- und Vollstreckungsregeln für Zivil- und Handelssachen (heute zu finden in der Brüssel-Ia-VO) zu unterstellen, sondern – wegen ihres besonderen Insolvenzbezugs – den speziellen Regelungen für Insolvenzverfahren. Noch unter der alten Fassung der EuInsVO entwickelte der Europäische Gerichtshof sodann für insolvenzbezogene Annexverfahren einen ungeschriebenen Attraktivgerichtsstand im Mitgliedstaat des Insolvenzverfahrens.
Bei Neufassung der EuInsVO hat der Verordnungsgeber diese Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs aufgegriffen – und ist noch darüber hinausgegangen. Die EuInsVO wartet nun nicht nur mit einem, sondern gleich drei Attraktivgerichtsständen auf: dem vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Attraktivgerichtsstand im Mitgliedstaat des Insolvenzverfahrens für „reine“ insolvenzbezogene Annexverfahren (Artikel 6 Absatz 1 EuInsVO) sowie dem Attraktivgerichtsstand im Mitgliedstaat des Beklagtenwohnsitzes und dem Attraktivgerichtsstand im Mitgliedstaat des Streitgenossen für zusammenhängende insolvenzbezogene Annex- und Zivilklagen (Artikel 6 Absätze 2 und 3 EuInsVO).
Anliegen dieses Werks ist es, die Reichweite der in Artikel 6 EuInsVO niedergelegten Attraktivgerichtsstände zu konturieren.
Unter besonderer Berücksichtigung des rechtsgeschichtlichen Umfelds und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs wird zunächst der Attraktivgerichtsstand im Mitgliedstaat des Insolvenzverfahrens untersucht. Als (übergeordneter) Dreh- und Angelpunkt gilt es, insolvenzbezogene Annexverfahren von normalen, wenn auch insolvenznahen, Zivilprozessen zu scheiden und damit die Anwendungsbereiche der EuInsVO und der Brüssel-Ia-VO abzustecken. Schwierigkeiten bereitet dem Rechtsanwender hierbei insbesondere die von dem Europäischen Gerichtshof geprägte wertungsoffene Legaldefinition von insolvenzbezogenen Annexverfahren als „Klagen, die unmittelbar aus dem Insolvenzverfahren hervorgehen und in engem Zusammenhang damit stehen“. Das Werk gibt dem Rechtsanwender ein Prüfungsschema an die Hand, mithilfe dessen insolvenzbezogene Annexverfahren identifiziert werden können, wie sodann anhand ausgewählter Einzelverfahren des deutschen Rechts demonstriert wird. Subsumiert werden etwa (Insolvenztabellen-)Feststellungsstreitigkeiten, Aus- und Absonderungsklagen, Verwalterhaftungsklagen und Haftungsklagen gegen Vertretungsorgane von Kapitalgesellschaften wegen Pflichtverletzungen im insolvenznahen Stadium.
Im Anschluss werden die neuen Attraktivgerichtsstände für zusammenhängende insolvenzbezogene Annex- und Zivilklagen im Mitgliedstaat des Beklagtenwohnsitzes und im Mitgliedstaat des Streitgenossen in den Blick genommen, ihre Voraussetzungen und Rechtsfolgen ermittelt. Das Werk schließt mit einer Beleuchtung zweier Folgefragen: Rechthängigkeitskonkurrenz und Drittstaatenproblematik.