Repression, Anpassung, Neuorientierung
Studien zum Islam in der Sowjetunion und dem postsowjetischen Raum
Wie konnte der Islam in der Sowjetunion überleben und wie entwickelt er sich seit 1991? In jeweils vier Fall- und Langzeitstudien diskutieren ausgewiesene Spezialisten aus der Region und zwei deutsche Wissenschaftlerinnen Transformationsprozesse des Islams in Tatarstan, Aserbaidschan, Dagestan, Usbekistan und Tadschikistan.
Einige Kapitel analysieren den Angriff der Bolschewiki auf den Islam seit den 1920er-Jahren. Altay Göyüşov und Il’nur Minnullin demonstrieren in diesem Kontext, wie die Sowjets insbesondere in Aserbaidschan und Tatarstan anfänglich versuchten, einige islamische Gelehrte und Intellektuelle auf ihre Seite zu ziehen. Während der frühen 1930er-Jahre zerstörten Kollektivierung und staatlicher Terror die islamische Infrastruktur fast vollständig, Moscheen und religiöse Stiftungen inklusive. Dasselbe Schicksal erlitten islamische Dorfgerichte (wie dies Vladimir Bobrovnikov in seinem Beitrag für Dagestan zeigt) und islamische Bildungsinstitutionen (durch Aširbek Muminov für Usbekistan dokumentiert) wie auch die muslimische Presse (am Beispiel Tatarstan von Dilyara Usmanova analysiert). Šamil‘ Šixaliev zeigt am Beispiel Dagestan, dass auch die religiösen Bruderschaften von massiver Verfolgung betroffen waren. Dieser Phase der brutalen Repression folgte eine Periode des modus vivendi zwischen Staat und Religion in der Nachkriegszeit mit unterschiedlichen zeitlichen und regionalen Ausprägungen (Muminov, Bobrovnikov, Šixaliev). Dabei wurde, insbesondere in post-sowjetischer Zeit, die Religion für „patriotische“ Zwecke instrumentalisiert, wie dies Christine Hunner-Kreisel und Manja Stephan in ihren, auf Feldforschung basierenden Beiträgen für Aserbaidschan und Mittelasien darlegen. Seit den frühen 2000er-Jahren steht der Islam fast überall wieder unter staatlicher Kontrolle; die führende Rolle des Staates bei der Definition eines „guten“ oder „schlechten“ Islams scheint weithin akzeptiert.
Während ähnliche Formen staatlichen Drucks in allen Regionen es uns erlauben ein Überblicksbild zu zeichnen, wie islamische Traditionen unterdrückt und wiederbelebt wurden, ermöglicht uns die „Archivrevolution“ der frühen 1990er-Jahre faszinierende Einblicke in die spezifischen Entwicklungen einzelner Regionen und die Anpassungsstrategien islamischer Gelehrter und Intellektueller vor Ort. Das sowjetische Erbe ist jedoch noch weithin spürbar, genauso wie die Versuche dieses negieren und unmittelbar wieder an die unterschiedlichen lokalen Islamtraditionen von vor 1917 anzuknüpfen. Selbst wenn mittels der Übernahme von Islaminterpretationen aus dem Ausland versucht wird, die sowjetischen Erfahrungen zu ignorieren, geschieht dies häufig noch immer im Rahmen einer weithin sowjetischen geprägten Mentalität.
How did Islam survive in the Soviet Union, and how did it develop since 1991? In four case studies and four longitudinal surveys, senior specialists from the area and two German scholars discuss the transformations of Islam in Tatarstan, Azerbaijan, Daghestan, Uzbekistan and Tajikistan.
Several chapters analyze the Bolsheviks’ attack on Islam since the 1920s. Altay Göyüşov and Il’nur Minnullin demonstrate how the Soviets first attempted to draw some groups of Muslim scholars and intellectuals to their side, in Azerbaijan and Tatarstan, respectively. In the early 1930s collectivization and outright state terror made a nearly complete end to the Islamic infrastructure, including mosques and pious foundations, Muslim village courts (as shown by Vladimir Bobrovnikov for Daghestan), Islamic educational institutions (as documented by Aširbek Muminov for Uzbekistan), as well as the Muslim press (analyzed by Dilyara Usmanova for Tatarstan); also Sufi brotherhoods became a main target of violent repression (Šamil‘ Šixaliev, for Daghestan). Repression was followed by the establishment of a modus vivendi between state and religion in the post-war period (Muminov, Bobrovnikov, Šixaliev), and by the instrumentalization of religion for patriotic purposes in the post-Soviet Caucasus and Central Asia (Christine Hunner-Kreisel, Manja Stephan, both based on fieldwork). By the early 2000s Islam was almost everywhere back under full state control; the leading role of the state for defining „good“ and „bad“ Islam is largely taken for granted.
While similar forms of state pressure in all regions thus allow us to draw an overall picture of how Islamic traditions were repressed and reanimated, the „archival revolution“ of the early 1990s provides fascinating insights into the specific developments in the individual regions, and into the adaptation strategies of the Muslim scholars and intellectuals on the spot. Still, the Soviet heritage is still very palpable; also the attempts to leapfrog the Soviet period and to link up again with the individual local Islamic traditions from before 1917, and even the negation of the Soviet experience in the form of embracing Islamic trends from abroad, are often still couched in largely Soviet mental frameworks.