Vergangenheit als Konstrukt
Mittelalterbilder seit der Renaissance
von Sonja KerthDie Frage nach Mittelalterbildern, nach Formen und Funktionen der Auseinandersetzung mit Mittelalter, ist derzeit und seit längerem ein überaus beliebtes Thema. Verfolgt man diese Beschäftigung über die letzten Jahre hinaus zurück, haben sich die Fragestellungen lange Zeit auf Mittelalter-Rezeption im Werk einzelner Künstler und Wissenschaftler bzw. in bestimmten Zeiträumen (z. B. Romantik) konzentriert. Festgestellt wurden dabei vor allem die Auslagerung von Ängsten und die Suche nach einer Zufluchtsstätte als Erfüllungsort für Träume und Wünsche, die einer ästhetischen, konfessionell-religiösen oder politisch-ideologischen Ebene zuzuordnen sind, in der die Vergangenheit mit dynastischen, national(istisch)en oder gesellschaftsutopischen Hoffnungen verknüpft ist. Welche Denkschemata, Modelle, Text- oder Bildstrategien hinter den einzelnen Mittelalterbildern stecken, wurde bislang weit seltener untersucht. Es ist keineswegs geklärt, welche Prinzipien der Wahrnehmung, der Selektion, Kombination und Sinnzuschreibung den Bausteinen für die Mittelalterbilder zugrunde liegen. Untersucht sind Mittelalter-Rezeption und ihre Hintergründe zudem vor allem für die Moderne und die Gegenwart. Die Frage nach Wahrnehmung und Konstruktionsweisen gilt aber auch für Mittelalterbilder, die vor die sogenannte „Erfindung des Mittelalters“ um 1800 (Reinhart Koselleck) zurückreichen. Ob und inwiefern diese frühe Phase von Mittelalter-Beschäftigung grundsätzlich andere Formen aufweist als nach 1800, ist noch weitgehend unklar. Trotz der Probleme um die Annahme von Epochen bzw. Epochengrenzen allgemein und im Fall der Frühen Neuzeit speziell kann die Renaissance bei allen Kontinuitätslinien als Bruchstelle und Startpunkt einer kritischen Auseinandersetzung mit Mittelalterbildern verstanden werden, die bis in die Gegenwart fortdauert - und ein Ende ist nicht abzusehen. Die Renaissance ist daher der Fluchtpunkt, von dem die interdisziplinären Beiträge in diesem Band ausgehen. Sie erstrecken sich bis zu aktuellen Formen und Medien der Mittelalter-Beschäftigung und haben einen Schwerpunkt im 19. Jahrhundert. Im Mittelpunkt stehen literarische Quellen vom ausgehenden 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart in lateinischer, deutscher und französischer Sprache, daneben werden Fachliteratur, Bühnenbilder und Baudenkmäler untersucht. Der Band, der die Ergebnisse eines wissenschaftlichen Symposions festhält, umfasst Vorträge aus den Disziplinen mittellateinische, französische, ältere und neuere deutsche Literaturwissenschaft, Religionswissenschaft, Kunstgeschichte und Geschichtswissenschaften.