Leben und Handeln im Alltag von Kairo
Sozialwissenschaftliche Analysen einer Gesellschaft im Umbruch
von Lars Gaiser
Unter dem Eindruck des politisch-gesellschaftlichen Diskurses infolge des 11. Septembers 2001 und der Orientalismusvorwürfe von Seiten arabischer Intellektueller wie Edward Said hat Lars Gaiser einen neuen Forschungsansatz entwickelt: Statt wie üblich singuläre Problemstellungen zu untersuchen, die durch eine einseitige Wahl des Forschungssujets zur Verzerrung neigen, analysiert er das von einer alltäglichen Situation abgeleitete Spektrum möglicher Handlungsoptionen. Durch das Wechselspiel von Collagen - bestehend aus Interviewzitaten, Beobachtungsberichten und Erläuterungen aus einer emischen Perspektive - und einer darauf aufbauenden, durch Daten aus Statistiken und Fachliteratur ergänzten etischen Analyse verschafft er dem Leser einen äußerst facettenreichen und dennoch überaus tief gehenden Einblick in die gesellschaftlichen Verhältnisse in Kairo.
Der hier skizzierte „handlungsspektrale Forschungsansatz“ wurde erfolgreich in den vier Alltagssituationen „Bildung ermöglichen“, „Nachbarschaft gewähren“, „Wohnraum beschaffen“ sowie „Wohnraum gewähren“ praktisch umgesetzt.
In seiner Analyse des ägyptischen Bildungssystems stellt er religiöse (azharitische), öffentlich-säkulare und private Schulen einander gegenüber. In den staatlichen Einrichtungen deckt er zahlreiche eklatante Defizite auf wie überfüllte Klassen, unterbezahlte demotivierte Lehrer und inadäquate Lehrmethoden. Er zeigt unter anderem die Dualität auf, in der die religiösen Schulen zwischen dogmatischen Ansprüchen und den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes stehen. Ein weiterer zentraler Gegenstand dieses Kapitels ist das ausufernde Nachhilfesystem, das nach Information des damaligen Unterstaatssekretärs bis zu ein Viertel des durchschnittlichen Familieneinkommens verschlingt.
Bei der Alltagssituation „Wohnraum beschaffen“ setzt er sich mit (Über)Lebensstrategien der unterprivilegierten Schichten wie Hausbesetzung, Vagabundieren und informelle Besiedlung auseinander. Er vernachlässigt dabei aber keineswegs die typischen Handlungsweisen der begüterten Ägypter: So deckt er beispielsweise auf, welcher Kniffe sich Vermieter - legal und illegal -zur Gewinnmaximierung bedienen.
Weitere in der Dissertation behandelte Themen sind unter anderem die Hürden auf dem Weg zur Eheschließung, Leben im Kloster, das Großfamilienhaus, das Leben über den Dächern von Kairo.
Anhand der zahlreich im Buch aufgezeigten Ungerechtigkeiten lässt sich der Unmut erahnen, der eine wesentliche Ursache für den arabischen Frühling darstellt.
Under the influence of political and social discourses as a result of 9/11 and the critique of Orientalism on the part of Arab intellectuals such as Edward Said, Lars Gaiser developed a new research approach: instead of the usual examination of singular problems, which are prone to distortion by a unilateral choice of research subjects, he analysed the spectrum of possible actions, which he derived from everyday situations. Through the interplay of mutually complementary assemblages (consisting of inter-view quotes, observation reports and statements from an emic perspective) and etic analysis (data from the statistics and literature), he gives the reader a multi-faceted and yet very profound insight in the social relations in Cairo. The ‘action-spectral research approach’, which is briefly presented here, was successfully put into practice in four everyday situations, namely the ‘enabling formation,’ ‘sharing neighbourhood,’ ‘obtaining housing’ and ‘giving living space.’ In his analysis of the Egyptian educational system, he compares the religious (Azharite), public and secular private schools, identifying many glaring deficiencies in state schools, such as overcrowded classrooms, underpaid and under-motivated teachers and inadequate teaching methods. Lars Gaiser demonstrates the duality of the religious schools, which are torn between the claims of dogma and the needs of the labour market. Another central topic of this chapter is the extensive private tutoring system – devouring up to a quarter of the average family income. In the everyday situation of ‘sharing living space,’ he deals with the survival strategies of the underprivileged classes (such as squatting, vagrancy and informal settlements) as well as the typical tactics of the wealthy Egyptians; he reveals, for example, what tricks the owners operate both legally and illegally to maximize profits. Other topics of the dissertation include the hurdles in the way to getting married, monastic life, living on Cairo rooftops and the housing of extended families. The numerous injustices highlighted in the book enable us to realise the resentment that has been a significant cause of the Arab Spring.