Die Baugeschichte der Sophienkirche in Sofia
von Galina Fingarova
Die einzigartige Architektur gibt der Sophienkirche in Sofia eine herausragende Bedeutung nicht nur für die Geschichte der Stadt, die den Namen der Kirche übernommen hat, sondern auch für die Architekturgeschichte des Balkanraumes und des byzantinischen Reiches. Trotzdem fehlte bisher eine sowohl den Forschungsstand kritisch durchdringende als auch gründliche Untersuchung dieses Monuments. Mit der umfassend angelegten Studie zur Baugeschichte der Sophienkirche wird diese Lücke auf überzeugende Weise geschlossen.
Eine eingehende Sichtung und kritische Auswertung der bisherigen Publikationen über die Sophienkirche hat ergeben, dass sie trotz ihrer Fülle viele Probleme aufgeworfen und Fragen unbeantwortet belassen haben. Zunächst fallen die widersprüchlichen Datierungen dieses Bauwerks auf, die vom 5./6. bis zum 12. Jahrhundert schwanken. Als Folge dieser kontroversen Datierungen wird der Schlüsselbau auch in ein jeweils ganz unterschiedliches kulturgeographisches Beziehungsgeflecht eingeordnet. Oft scheint es, als würden die gewählten kunsthistorischen und archäologischen Methoden selektiv angewendet, um die eine oder die andere der gegensätzlichen Positionen zu untermauern.
Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, den baugeschichtlichen Standort der Sophienkirche zu bestimmen und dadurch ihre Bedeutung im Rahmen der byzantinischen Architektur herauszuarbeiten. Dabei gilt es, zunächst die Entstehungszeit und das ursprüngliche Aussehen des Baus, womöglich auch seinen Stifter zu bestimmen sowie die späteren Bauphasen zu differenzieren und sie zeitlich einzugrenzen. Um alle diese Fragen zu beantworten, wurde die folgende Vorgehensweise gewählt: Zunächst wurde die Lage des Baus im Verhältnis zur Stadttopographie untersucht, vertiefend erfolgte eine detaillierte Befundaufnahme und Analyse der Vorgängerstrukturen der Sophienkirche. Der Kernteil der Arbeit bildet eine eingehende Bauaufnahme. Sie umfasst einerseits eine gründliche Auswertung der bestehenden Struktur, die auf eigenen Beobachtungen an dem Bau basiert, gestützt auf neuen unpublizierten Plänen und photogrammetrischen Aufnahmen und untermauert durch eine Vielzahl eigener Fotografien. Andererseits wurde eine kritische Neuauswertung älterer archäologischer Berichte und Baubeschreibungen, sowie alter Fotos herangezogen. Auf dieser Grundlage und der Analyse der Befunde wurden unterschiedliche Bauphasen differenziert, sowie das ursprüngliche Erscheinungsbild der Sophienkirche herausgearbeitet. Anhand der gewonnenen Erkenntnisse wurden die Struktur, die Raumdisposition und die architekturhistorische Stellung des Ursprungsbaus im Vergleich mit anderen Monumenten aus dem Balkan und dem breiteren Bereich des Byzantinischen Reiches analysiert. Es ließ sich dabei eine ziemlich genaue Datierung des Ursprungsbaus festlegen, den Bauvorgang teilweise nachverfolgen, die Funktion des Baus feststellen sowie Hinweise auf seinen Stifter gewinnen. Am Ende konnte mit Hilfe der wenigen mittelalterlichen Quellen und vor allem der zahlreichen Reiseberichten aus dem Zeitraum zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert die spätere Geschichte des Baus verfolgt werden.
Die eingehende Untersuchung der Baugeschichte der Sophienkirche in Sofia zeigt neue - von der bisherigen Forschung beträchtlich abweichende - Ergebnisse: Sie wurde als Nachfolgerin von zwei nacheinander existierenden Bauten errichtet. Der erste Kultbau an dieser Stelle entstand erst nach 355 und nicht bereits am Anfang des 4. Jahrhunderts. Der Bau stand in engem Zusammenhang mit einer daneben liegenden Grabkammer, deren Grabinhaber als hochangesehene Persönlichkeiten identifiziert wurden und die möglicherweise für die Errichtung des Baus verantwortlich waren. Der Altarraum des Kultbaus und die Grabkammer entwickelten sich zu einem heiligen Ort. Nach der Zerstörung des ersten Kultbaus wurde in der Mitte oder in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts darüber eine größere Kirche errichtet. Dieser Bau dürfte während des 6. Jahrhunderts bestanden haben; die Zeit seiner Zerstörung bleibt unklar, aber man darf annehmen, dass der Bau im 7. Jahrhundert bereits außer Gebrauch kam. Während dieser Zeit zieht sich das gesellschaftliche Leben aus Gründen der wachsenden Unsicherheit des unbefestigten Territoriums infolge der Slawen- und Awarenangriffe hinter die Festungsmauern zurück.
Die Lage der Kirche außerhalb der Stadtmauer sowie die Evidenzen, die der Bau bis zum heutigen Tag aufbewahrt hat, zeigen die Sophienkirche als einen Memorialbau, in dem der Stifter seine letzte Ruhestätte in einer monumentalen Grabkammer unterhalb des Narthex fand. Verschiedene Indizien bringen den Bauherren in Verbindung mit der kaiserlichen Familie in Konstantinopol, was die Bedeutung der Sophienkirche zusätzlich erhöht. Sie sollte nicht nur das Grab des Stifters aufnehmen und seinen persönlichen Ruhm verewigen, sondern auch die Macht und die Herrschaft des Byzantinischen Reiches über diese Gebiete zur Schau stellen. Die Errichtungszeit reicht von der Mitte des 8. Jahrhunderts bis ins Jahr 811. Es ist die Periode des byzantinischen Bilderstreits – eine Zeit, welche die Wissenschaft immer noch die dunkle nennt, einerseits weil die schriftlichen Quellen keine bzw. verfälschte Informationen darüber liefern, andererseits weil nur wenige Monumente aus dieser Zeit erhalten bzw. nachweisbar sind. Durch die Datierung der Sophienkirche in diesen Zeitraum wird für die Wissenschaft ein Monument wiedergewonnen, das ein beträchtlicher Beitrag für das Studium und das bessere Verständnis dieser Zeit leistet. Allein darin zeigt sich die große Bedeutung der Sophienkirche in Sofia, nicht nur für die Geschichte der Stadt und die Architektur Bulgariens, sondern auch und vor allem für die byzantinische Architektur.