Die Statue und der Tempel des Arya Va-ti bzang-po
Ein Beitrag zu Geschichte und Geographie des tibetischen Buddhismus
von Franz-Karl Ehrhard
Die Region von Mang-yul sKyid-rong im südwestlichen Tibet hat als Sitz der Statue und des Tempels des Arya Va-ti bzang-po eine besondere Bedeutung für die Welt des tibetischen Buddhismus. Die Statue zählt zu den so genannten „Brüdern Avalokitešvara“ und soll bereits im 7. Jahrhundert von Nepal nach Tibet gelangt sein. Der Legende nach geht dieses Ereignis zurück auf das Wirken des Srong-btsan sgam-po, des ersten buddhistischen König Tibets; er soll ebenfalls den Bau des Tempels an der Grenze seines Reiches veranlasst haben. Die Rolle des Heiligtums für die Reisen tibetischer Gelehrter und Übersetzer kann aus historischen Quellen vielfach belegt werden, aber erst durch das literarische Genre von Pilgerführern ist es möglich, eine vollständige Beschreibung des wechselhaften Schicksals der Statue und des Tempels zu erhalten.
Die vorliegende Studie bietet eine annotierte Übersetzung eines solchen Pilgerführers, der in den Werken des Brag-dkar rta-so sPrul-sku Chos-kyi dbang-phyug (1775 bis 1837) zu finden ist. Der religiöse Einfluss dieses Lehrers der rNying-ma-pa- und ’Brug-pa bKa’-brgyud-pa-Überlieferungen war nicht nur auf Mang-yul sKyid-grong beschränkt, sondern man findet heute noch die Spuren seiner Lehrtraditionen in den Tälern des tibetischen Himalaya. Neben der Textedition dieses als Manuskript erhaltenen Werkes werden außerdem zwei als Blockdrucke erhaltene Texte zu der Statue und dem Tempel des Arya Va-ti bzang-po vorgestellt und textkritisch ediert; diese Werke stammen aus dem 16. Jahrhundert und können als die ältesten xylographierten Pilgerführer des tibetischen Kulturraumes bezeichnet werden.
Das Anliegen der Arbeit ist es, die religiöse Geographie einer Region zu beschreiben, die im kulturellen Gedächtnis der Tibeter einen zentralen Platz einnimmt und die als wichtiger Verbindungskorridor zwischen Tibet und dem Süden fungierte. Es kann gezeigt werden, wie sich eine religiöse Landschaft durch die jahrhundertlange Verehrung des Bodhisattvas des „Großen Mitgefühl“ konstituierte.
Unter den erstmals für die Tibetologie und verwandte Disziplinen zugänglich gemachten Texteditionen finden sich weiterhin zwei Sammlungen von Hymnen an den Arya Va-ti bzang-po, die Lobpreise für das Standbild aus der Feder verschiedener Vertreter der Inkarnationsreihe des Dalai Lamas enthalten und die Popularität der Statue bei Vertretern der dGa’-ldan pho-brang-Regierung dokumentieren. Eine tibetische Karte, verschiedene Abbildungen, ein Faksimile des Pilgerführers aus dem 19. Jahrhundert sowie der komplette Überblick zum Aufbau der Gesammelten Werke des Brag-dkar rta-so sPrul-sku Chos-kyi dbang-phyug runden die Gesamtdarstellung ab.