Valenzstrukturen der russischen Verben bei russisch-deutsch Bilingualen in Deutschland
von Wald VeronikaDie vorliegende Studie bietet eine Reihe von methodischen und inhaltlichen Anknüpfungspunkten für die Untersuchung der Valenzstrukturen der russischen Verben in der Sprache der russisch-deutschen Bilingualen in Deutschland an.
Das Hauptziel der vorliegenden Studie war es, unter Verwendung von theoretischem Wissen im Bereich Valenz und Sprachkontakt und empirischer Daten, die für die vorliegende Untersuchung gesammelt wurden, die wichtigsten Forschungsfragen hinsichtlich der Veränderung der Valenz der russischen Verben bei russisch-deutschen Bilingualen zu beantworten. An der Untersuchung haben insgesamt 63 Russischsprecher/-innen aus Deutschland und 30 Russischmuttersprachler/-innen aus Russland (Kontrollgruppe) teilgenommen.
Jede Testperson sollte 87 Sätze mit den vorgegebenen Verben und anderen Stimuli bilden und aufschreiben. Während der Datenauswertung wurden insgesamt 584 einzelne Valenzabweichungen (VA) bzw. 529 Sätze mit VA entdeckt, was bei den Testpersonen in Deutschland 9,3 % von der Anzahl aller erwarteten Sätze ausmacht.
Bei laufender Datenanalyse wurde eine Klassifikation der VA erstellt, die darauf hindeutet, dass die VA unterschiedlicher Entstehungsnatur sind. Etwa ein Viertel (26,6 %) aller VA sind durch den Sprachkontakt entstanden und können als Teil- bzw. vollständige Replikationen bezeichnet werden. Zirka ein Sechstel aller VA der Russischsprecher/-innen in Deutschland können mit den psycholinguistischen Modellen der Sprachproduktion erklärt werden. Die meisten VA sind durch die Verwendung eines falschen Kasus oder durch die Verwendung einer falschen Präposition zustande gekommen, wobei die Natur der Entstehung dieser VA meistens unklar bleibt.
Die Daten zeigen, dass 43,6 % aller VA mit der Realisation eines falschen Kasus verbunden sind, wobei der nicht oblique Kasus, also Nominativ, stabil bleibt. Fast alle obliquen Kasus wurden durch die restlichen fünf ersetzt. Trotz aller Kasus-VA lässt sich der Abbau bzw. die Erosion des Kasussystems des Russischen bei Herkunftssprecher/-innen konstatieren, obwohl laut des t-Tests die Veränderungen im Kasussystem jedoch nicht signifikant sind. Es kann vermutet werden, dass die Kasusveränderungen nicht an dem Kasus selbst liegen, sondern eher mit der Valenzstruktur des Verbs, dessen Semantik und/oder der Verbfrequenz zusammenhängen. So ist anzunehmen, dass die Abweichungen im Kasussystem durch den unvollständigen Spracherwerb des Russischen hervorgerufen werden können.
Außerdem sind die VA im Präpositionssystem des Russischen in Deutschland festzustellen (27 %), wobei die Präposition entweder fehlt, überflüssig ist oder durch eine andere Präposition ersetzt werden kann. Während der Abweichungsanalyse wurde ersichtlich, dass die Herkunftssprecher/-innen, wenn sie sogar eine falsche Präposition verwenden, trotzdem zu der Realisation des Kasus neigen, den die verwendete Präposition regiert. Daraus lässt sich behaupten, dass sie über ein Feingefühl hinsichtlich des Kasussystems des Russischen verfügen.
Im Laufe der Untersuchung wurde mit Hilfe mehrerer Poisson-Regressions die Korrelation zwischen der Anzahl der VA und folgenden Faktoren bewiesen: der Frequenz der russischen Verben im Nationalkorpus des Russischen, Polysemie des russischen Verbs, die Anzahl der Valenzstrukturen (Apresjan/Páll) und die Polysemie des deutschen Äquivalentverbs, Einreisealter, die Sprache der ersten Einschulung, Geschlecht, dominante Sprache, Bildung in russischer Sprache, die Variable der Häufigkeit der Sprachproduktion in russischer Sprache.
Die Datenanalyse zeigt, dass das sensible Einreisealter angesichts der Anzahl der VA in der Altersspanne zwischen acht und elf Jahren liegt. Ab dem Einreisealter 12 Jahre gleicht die Anzahl der VA der Russischsprecher/-innen in Deutschland der Anzahl der VA der Kontrollgruppe aus Russland.
Bei dem Vergleich der Hauptuntersuchungsgruppe in Deutschland und der Kontrollgruppe in Russland lässt sich feststellen, dass sich in der Sprache der Russischsprecher/-innen in Deutschland mehrere VA finden lassen, die auch vielfältiger als die VA der Kontrollgruppe aus Russland sind. D.h. die VA der Russischsprecher/-innen in Deutschland weisen alle Typen und Untertypen der in der vorliegenden Studie dargelegten Klassifikation der VA-Typen auf. Die Mehrheit der VA der Kontrollgruppe lässt sich mit den psycholinguistischen Modellen der Sprachproduktion erklären.
Die vorliegende Studie leistet eine Pionierarbeit in der Untersuchung der VA bei bi- bzw. multilingualen Personen und kann als Basis für weitere Untersuchungen der Verbvalenzabweichungen im Sprachkontakt gesehen werden.