Im Vorraum der Geschichte
Siegfried Kracauers »History. The Last Things before the Last«
von Stephanie Baumann»Erst jetzt bin ich in der Lage, mich meinem letzten Ziel zu nähern - einer Neudefinition und Rehabilitierung bestimmter Denkweisen, die Historikern eigentümlich sind. Aber nicht nur ihnen. Ihre Art zu argumentieren und zu reflektieren herrscht in dem ganzen Bereich vor, in den die Geschichte fällt – ein Bereich, der an die Welt des Alltags grenzt, die Lebenswelt - und der sich bis an die Grenze der eigentlichen Philosophie erstreckt.« - Siegfried Kracauer
Der Historiker als Photograph, Exilant oder Mystiker? Die erste Monographie über Kracauers amerikanisches Spätwerk.
Kracauer schrieb an Siegfried Unseld, sein Fragment gebliebenes Werk History. The Last Things before the Last sei sein »wichtigstes Buch«. Die Rezeption dieser Meditationen über Geschichte, mit denen Kracauer seine medientheoretischen Reflexionen auf ein »breiteres Feld«, nämlich die Historiographie, anwendet, ließ gleichwohl erstaunlich lange auf sich warten. Die vorliegende Publikation schließt eine Lücke, indem sie einerseits die werkhistorischen Schichten von Kracauers Spätwerk freilegt und andererseits die konstellatorischen Bezüge aufzeigt, in denen sich Kracauers Denken bewegt. Dieser entwickelte seine Thesen im Austausch mit so prominenten Gelehrten wie Walter Benjamin, Erwin Panofsky, Erich Auerbach oder Hans Blumenberg. History ist, wie Stephanie Baumann filigran nachweist, dabei nachhaltig von Kracauers Exilerfahrung geprägt. Diese autobiographische Dimension seines Geschichtsdenkens führt die Autorin anhand von zahlreichen Materialien aus dem Nachlass vor. Für Kracauer ist der Historiker nicht nur ein Photograph und Mystiker, sondern auch ein Flaneur und Exilant, der sich zwischen den Epochen und Zeiträumen bewegt, im historischen Universum, das einer Wartehalle gleicht. Die Debatten um den Historismus, die in den 1920er Jahren in Deutschland geführt wurden, greift er ebenso auf, wie frühe Positionen Hayden Whites. Geschichte ist für Kracauer immer auch Erzählung. Proust, Joyce und Woolf sind wichtige literarische Vorbilder und Garanten einer Zeitkonzeption, die von einer legendarischen Figur verkörpert wird: Ahasver, dem ewigen Juden, der durch die Zeiten und Räume wandert und in dessen Antlitz die Diskontinuitäten und Brüche der Geschichte auf erschreckende Weise vereint sind.