Verrückte Sprache
Psychiater und Dichter in der Anstalt des 19. Jahrhunderts
von Yvonne WübbenEine Studie über die Austauschbeziehungen von Wahnsinn und Literatur.
Dichter und Psychiater ähneln sich in ihren Verfahrensweisen: Sie schreiben auf, streichen durch, überarbeiten und fixieren, was zum gedruckten Text werden soll. So entstehen wesentliche Aspekte der psychischen Krankheit auch unter den besonderen Bedingungen von Schriftlichkeit, d. h. in einem konkreten Schreib- und Aufzeichnungsraum.
Aus einer wissensgeschichtlichen Perspektive untersucht Yvonne Wübben, wie literarische Werke und briefliche Zeugnisse im 19. und frühen 20. Jahrhundert für die Diagnose von psychischen Krankheiten herangezogen werden. Die Anfänge einer solchen Sprachdiagnostik liegen bei dem vergleichsweise unbekannten Karl Ludwig Kahlbaum, der die Sprache seiner Patienten unter formalen und linguistischen Aspekten analysiert. In seiner Heidelberger Klinik erweitert und systematisiert Emil Kraepelin dieses Verfahren. Seine diagnostische Praxis bietet Aufschlüsse über die ästhetischen und zunehmend auch linguistischen Sprachnormen der Psychiatrie des späten 19. Jahrhunderts. Der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler, der erstmals die Krankheitskategorie »Schizophrenie« einführt, setzt diese Ansätze fort. Dabei wird Literatur konstitutiv für die psychiatrische Diagnostik: Denn literarische Texte machen in einer spezifischen Konstellation etwas evident, das vorher nicht wahrgenommen wurde. Zugleich gerät die Diagnostik in ein Spannungsverhältnis zur literarischen Moderne, die ihrerseits vom allgemeinen psychiatrischen Interesse der Zeit profitiert.
Die Autorin fragt nicht nur nach den literarischen Strategien psychiatrischer Erzähltexte und psychiatrischen Gattungen, sondern nach den Schnittflächen zwischen Psychiatrie und Literatur, etwa nach dem Wechselverhältnis von narrativer Struktur und Nosologie oder von Philologie und Pathographie.