Nomadische Ressourcennutzung und Existenzsicherung im Umbruch
Die osttibetische Region Yushu (Qinghai, VR China)
von Andreas Gruschke
Bis vor wenigen Jahrzehnten waren die Kenntnisse über Tibets Nomaden rudimentär und die Vorstellung von ihnen dennoch mit Images überfrachtet. Ihre heutige Situation wirkt ausgesprochen widersprüchlich. Nach 1980 hat die mobile Weidewirtschaft offenbar zu einer Re-Nomadisierung geführt, die durch den Marktliberalismus bedroht wird. Die Darstellung tibetischer „Nomadenkultur“ zeigt eine Vielfalt mit zwar massiven Disparitäten, doch nicht das „Ende des Nomadismus“ auf. Aber selbst in den dünn besiedelten Weidegebieten des Hochlands leben immer mehr Menschen und erleben es als zunehmend schwierig, dort ihr Auskommen zu finden. Nicht nur die lokal herrschenden Bedingungen verändern sich, auch von außen lösen weltwirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Verflechtungen verschiedenste Transformationsprozesse aus. Mit der Integration in den chinesischen Staatsverband und in die Netzwerke der Globalisierung haben sich die Rahmenbedingungen für das Wirtschaften in den Weidegebieten Tibets verändert. Zur Erfassung der Lebenswirklichkeit der Hirtenbevölkerung ist die detaillierte Auseinandersetzung mit ihrer Ressourcensituation die Grundlage dafür, die Folgen der Umbrüche zu verstehen und zu erklären.
Das vorliegende Buch verbindet vorhandenes Wissen über die nomadische Lebensweise im tibetischen Hochland mit einer entwicklungstheoretisch angeleiteten Analyse der heutigen Bedingungen nomadischer Existenzsicherung. Ausgehend von der osttibetischen Region Yushu beschäftigt sich die Untersuchung mit der Frage, wie nomadische Gesellschaften in Zeiten des Umbruchs die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen zur Sicherung ihrer Lebenshaltung und Lebensweise nutzen. Hirten und Agropastoralisten erschließen sich neue Betätigungsfelder, unter denen eines der wichtigsten das Sammeln und Verkaufen von Raupenpilz ist. Dies stellt eine weltweit einzigartige ökonomische Nische dar, deren rasante Entwicklung durch die engeren Land-Stadt-Verflechtungen und die verstärkte Integration in das nationale Wirtschaftsgefüge Chinas bedingt ist. Die Bedeutung dieses Nischenproduktes für die Existenzsicherung tibetischer Nomaden stellt vielerorts die Relevanz der klassischen Viehweidewirtschaft für die gegenwärtigen Haushaltsökonomien in Frage.
Mit dem Bezirk Yushu wurden in der vorliegenden Arbeit in qualitativ und quantitativ bewerteten Fallstudien die Lebensgrundlagen nomadischer und seminomadischer Haushalte in einer lange Zeit als besonders abgelegen geltenden, ökologisch problematischen und ökonomisch randständigen Region im Osten des tibetischen Hochlandes untersucht. Das Buch erörtert, in welcher Weise ressourcenbezogene Handlungsmuster und exogene Faktoren zusammenwirken, um das Ausmaß von Absicherung, Verwundbarkeit und Resilienz von Haushalten, Gruppen und der übergeordneten Gesellschaft zu bestimmen.