Dschihad im Kaukasus
Antikolonialer Widerstand der Dagestaner und Tschetschenen gegen das Zarenreich (18. Jahrhundert bis 1859)
von Clemens P. Sidorko
Die blutigen Auseinandersetzungen, welche seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zwischen Moskauer Zentralmacht und kaukasischer Teilrepublik Tschetschenien toben, bilden historisch gesehen nur die neuerliche Kulmination eines viel älteren und niemals gelösten Konflikts: Bereits als das russische Zarenreich im Verlauf des 18. Jahrhunderts Kaukasien zu erobern begann, erwuchs ihm in dessen nordöstlichem Teil bei Tschetschenen und Dagestanern erbitterter Widerstand. Waren ihrem Kampf anfangs nur kurze Erfolge beschieden, gelang es zwischen 1829 und 1859 die in zahlreiche Sprachgruppen und Herrschaftsformen zersplitterten Völkerschaften Nordkaukasiens im Zeichen des Dschihad (Kampf für den Islam) gegen das Vordringen des Zarenreichs zu vereinen und unter dem charismatischen Imam Šamil ein von der islamischen Scharia geprägtes Staatswesen aufzubauen. Die Schrift stellt Entwicklung und Funktionsweise von Dschihad und Imamat, einschließlich ihrer Wurzeln und Vorläufer dar. Detaillierte Ereignisgeschichte wird dabei mit der Analyse übergeordneter Strukturen verknüpft.
Ausgangspunkt der Untersuchung ist die kritische Diskussion und Interpretation sämtlicher Quellen: insbesondere der erhaltenen Selbstzeugnisse der kaukasischen Muslime, von denen viele erst in den letzten Jahren zugänglich geworden sind, sowie bisher wenig beachteter Berichte zumeist polnischer Kriegsgefangener und Deserteure, die zeitweise in Šamils Staat lebten. Der Vergleich dieser Materialien mit den russischen Quellen, welche das traditionelle Bild der Forschung prägten, eröffnet eine doppelte Perspektive auf das Geschehen und ermöglicht so ein Urteil aus übergeordneter Warte.
Zu den Ergebnissen der Studie zählt ferner die Entlarvung zahlreicher Stereotypen und Mythisierungen, die sich bis in die seriöse Forschung hinein mit dem Dschihad der Imame verbinden. Clemens P. Sidorko legt mit seinem Buch zum ersten Mal im deutschen Sprachraum eine streng historische Gesamtdarstellung der Kaukasuskriege vor. Zu einigen Schwerpunkten der Arbeit - etwa der eingehenden Schilderung des Imamatstaats als Lebenswelt - existiert in der Forschung bisher nichts Vergleichbares.
In historical perspective, the bloody conflict between the Muscovite central power and the Caucasian Republic Chechnya which broke out after the downfall of the Soviet Union is no more than the new culmination of a much older unresolved conflict. When the Russian Czar Empire began to conquer Caucasia in the 18th century, it was confronted with the bitter resistance of the Chechens and Daghestanis in North-eastern Caucasia. At first the success of the resistance was only limited. However, between 1829 and 1859 the peoples of Northern Caucasia which were fragmented into various language groups and forms of governance were united by the djihad (fight for Islam) against the expansion of the Czar regime. Under the carismatic leader Imam Shamil they build up a state based on the Islamic sharia.
This work investigates into the development and functionalities of the djihad and imamate, including its roots and precursors. Thereby, the history of events is combined with the analysis of superordinate structures. The critical discussion and interpretation of different sources is the starting point of this investigation. Testimonials of Caucasian Muslims are examined, many of which only became accessible in the last few years. Furthermore, reports of prisoners of war and deserters (mainly of Polish origin) who temporarily lived in Shamil’s state are taken into account; these reports have hardly been considered so far. The comparison of these materials with the Russian sources which formed the traditional image of research enables a double perspective on the events and a judgment from another point of view. In addition, this study also exposes numerous stereotypes and myths which even concern reputable research about the djihad of the imams. Finally, some aspects of this work – such as the detailed account of everyday life in the imamate – have not yet been investigated into and can, therefore, be considered as unique.