Stamm und Macht
Die arabischen Stämme im 2. und 3. Jahrhundert der Hidschra
von Eva Orthmann
Zu Beginn des Jahres 177 / 793 ereignete sich in Damaskus eine denkwürdige Begebenheit: ein Stammesführer aus dem Hauran, begab sich in Begleitung bewaffneter Anhänger vor den Palast des Gouverneurs, forderte die Absetzung des Polizeichefs und übernahm wenig später die Macht in der Stadt. Kämpfe zwischen Stadt und Umland brachen aus, Stämme schlossen sich zu übergeordneten Verbänden zusammen, aus der weiteren Umgebung rückten Verbündete heran. Erst, als die Abbasidische Regierung Truppen nach Syrien entsandte, konnte die Situation wieder unter Kontrolle gebracht werden.
Herausragend durch ihre Intensität und die Zahl involvierter Gruppierungen, stellen diese Kämpfe keinen Einzelfall dar, sondern stehen exemplarisch für eine ganze Reihe von Auseinandersetzungen, die sich in der Abbasidenzeit zwischen verschiedenen Stämmen oder zwischen Stämmen und der Regierung ereigneten. Die Abbasiden erbten damit ein Problem, das bereits ihre Vorgänger belastet hatte.
Die vorliegende Studie nimmt erstmals Stammeskonflikte aus dem 2. und 3. Jahrhundert der Hidschra systematisch in den Blick. Dabei wird deutlich, dass der Wechsel von den Umaiyaden zu den Abbasiden für die Stämme ein weniger einschneidendes Ereignis dargestellt hat, als bisher vermutet. Unter Hinzuziehung ethnologischer Forschungsergebnisse wird das Verhalten einzelner Clans und Stammesführer analysiert, und insbesondere nach den Eigeninteressen kleiner Stammeseinheiten gefragt. Zunehmend kommen hierdurch Zweifel an der praktischen Bedeutung übergeordneter Stammeskonföderationen auf. Die Studie stellt daher gängige Erklärungsmuster, die von einer polaren Spaltung der Stämme in Qais und Yaman ausgehen, auch für die Umaiyadenzeit in Frage.