Das Andachtsbuch der Marie de Gavre
Paris, Bibl. Nat. Ms. nouv. acq. fr. 16251. Buchmalerei in der Diözese Cambrai im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts
von Andreas Bräm
Das Andachtsbuch der Marie de Gavre, Ms. nouv. acq. fr. 16251 der Bibliotheque Nationale von Paris, zählt mit ehemals 90, heute 87 ganzseitigen Miniaturen zur Vita Christi und der Heiligen zu den bedeutendsten Bilderhandschriften des 13. Jahrhunderts. Es stellt den buchkünstlerischen Höhepunkt Nordfrankreichs und Flanderns in dieser Zeit dar.
Kalendar- und Archivstudien erlauben es, die Erstbesitzerin um 1285, eine Nonne im Zisterzienserinnenkloster von Wauthier-Braine im belgischen Hennegau zu ermitteln, die damit in den kleinen Kreis adeliger Besitzerinnen exklusiver Bilderhandschriften gehört.
Typologisch ist das Werk einzigartig, da es außer einem lateinischen Kalendar und einer in französischer Sprache geschriebenen Miniaturenliste textlos ist. Die große Zahl von ganzseitigen Miniaturen ohne Text - mit Szenen in knapper aber prägnanter Formulierung und mit Compassio-Motiven - zeigt, dass die Handschrift als Bilderandachtsbuch konzipiert und benutzt wurde.
Die Buchmaler, aus deren Werkstatt noch fünf weitere Handschriften hervorgegangen sind, haben kaum im Kloster gearbeitet, sondern wohl in der Stadt Nivelles. Ihre Arbeit ist denn auch stark dem dort befindlichen berühmten Gertrudenschrein verpflichtet. Die Untersuchung der Arbeitsabläufe hat gezeigt, dass die Herstellung des außerordentlich reich illustrierten Codex für die Künstler keine alltägliche Aufgabe darstellte.
Die monographische Darlegung des Bilderandachtsbuches erfolgt im Zusammenhang mit der Produktion illuminierter Handschriften in der Diözese Cambrai, die im Mittelalter mit Brabant und Hennegau einen beträchtlichen Umfang erreichte und städtische Zentren wie Mons, Brüssel und Mechelen umfasste.
Die Monographie enthält außer einer kunsthistorischen und historischen Einordnung sämtliche Miniaturen sowie ausführliches Vergleichsmaterial in über 200 Abbildungen.