Kulte - Orte - Körperteile
Eine Neubewertung der Weihung anatomischer Votive in Latiums Heiligtümer
von Velia Boecker
Zu den interessantesten Funden aus den Heiligtümern des antiken Latium gehören aus Terrakotta gefertigte Nachbildungen von Körperteilen, die sich ins 4. bis 1. Jh. v. Chr. datieren lassen. Diese anatomischen Votive galten bisher als Indikatoren für Heilkulte und als Bestandteile griechischer oder römischer Religion, die im Laufe der römischen Expansion in die Heiligtümer Latiums übernommen wurden. Auf diese Körperteilweihungen und ihre Deutung wirft diese Monographie einen neuen, frischen Blick. Sie wertet die archäologischen Kontexte aus und analysiert mehr als 100 Fundorte mit insgesamt über 15.000 anatomischen Votiven nicht nur quantitativ, sondern auch hinsichtlich ihrer Verbindung zu topographischen Merkmalen und der Anbindung an Straßen und Siedlungen. Auf dieser Grundlage lassen sich zwei Gruppen von Stätten klassifizieren, die sich hinsichtlich ihrer Lage, der Zusammensetzung der Votivkomplexe, der adressierten Gottheiten und in geschlechtsspezifischer Hinsicht voneinander abgrenzen lassen. Beide Gruppen wurzeln vermutlich in älteren, regionalen Kulttraditionen und lassen mit Blick auf die Architektur der Stätten oder hinsichtlich der adressierten Gottheiten keinen spezifischen Schwerpunkt als „Heilkult“ erkennen.
Stattdessen zeigen die quantitative Analyse der Votivkomplexe und die Untersuchung der Vergesellschaftung der Körperteilweihungen mit anderen Votivgaben die anatomischen Votive als Medien, die in Situationen eingesetzt wurden, die mit Unsicherheit, Stress oder persönlichen Krisen verbunden waren. Sie dienten somit der Stärkung der persönlichen Resilienz, indem sie diese Unsicherheiten und Ängste thematisierten, sichtbar machten oder ihre Überwindung symbolisierten. Damit sind anatomische Votive höchstwahrscheinlich nicht als Opfergaben mit einer statischen Bedeutung in einem festen kultischen Kontext zu verstehen, sondern vielmehr als multivalente Objekte in einem flexiblen Bezugsrahmen. Es ist davon auszugehen, dass die Bedeutung der Körperteilweihungen von ihren Stiftern und Stifterinnen individuell festgelegt wurde und je nach Kontext variieren konnte.
Die Kontextualisierung der Funde ermöglicht eine neue Sicht auf die Stätten, die bislang als Heilkultstätten betrachtet wurden und erlaubt die Neu-Deutung der Körperteilweihungen als Zeugnis lokaler, eng vernetzter Gemeinschaften mit einem von autochthonen Traditionen beeinflussten Vorstellungshorizont. Damit lassen sie sich auch als Teil einer eigenständigen Identität innerhalb eines größeren Bezugsrahmens verstehen. Dieser Perspektivwechsel trägt zu neuen Einsichten in die Tradition und Thematik archäologischer Stätten bei, die früher als Heilkultstätten betrachtet wurden.
Among the most interesting finds from ancient Latium are terracotta replicas of body parts that can be dated to the 4th to 1st centuries BC. These anatomical votives were previously understood as indicators for healing cults and components of Greek or Roman religion, which were adopted into the sanctuaries of Latium in the course of Roman expansion. This monograph takes a fresh, new look at these votives and their interpretation. Featuring a contextualising approach, it analyses more than 100 sites with a total of over 15,000 anatomical votives not only quantitatively, but also with regard to their connection to topographical features and the connection to roads and settlements. Based on this data, two types of sites can be classified, which can be distinguished from each other in terms of their location, the composition of the votive complexes, the venerated deities and in gender-specific terms. Both groups are presumably rooted in older, regional cult traditions and do not reveal a specific focus as a „healing cult“ with regard to the architecture of the sites or the deities addressed.
Instead, the quantitative analysis of the votive complexes and their associated finds show the anatomical votives as media that were used in situations associated with uncertainty, stress or personal crises. They thus served to strengthen personal resilience by addressing these uncertainties and fears, making them visible or symbolising their overcoming.
Thus, anatomical votives are most likely not to be understood as offerings with a static meaning in a fixed cultic context, but rather as multivalent objects in a flexible frame of reference. It can be assumed that the meaning of the anatomical votives was individually determined by their donors and could vary depending on the context.
The contextualisation of the finds allows a new view of the sites, which were previously regarded as healing cult sites, and permits a new interpretation of the body part dedications as evidence of local, closely networked communities with a horizon of ideas influenced by autochthonous traditions. Thus, they can also be understood as part of an independent identity within a larger frame of reference. This change of perspective contributes to new insights into the tradition and subject of archaeological sites formerly addressed as healing cult sites.