Ein leises Geräusch wie ein Gefühl des Sehnens
Dichtung und Zeugenschaft zum faschistischen Konzentrationslager in Libia Coloniale
von Jonas Müller-Laackman
„A soft sound, like a feeling of longing“: these are the words a poet uses to describe the sounds of a ship as he and many other deportees are gathered on deck en route to the infamous al-ʿAgīla camp. A portion of the story of the Italian concentration camps in the colony of Libya is told through the poetry about these camps passed down by survivors, which has been archived and partially published in postcolonial Libya.
Historical research on these camps often aims to break away from Eurocentric colonial historiography and confront the myth of Italian fascism as more benign. The collected poems play a central role in this revision by representing original Libyan voices that form a counter-narrative against the European perspective. Yet their literary significance as moving narrations of the suffering in concentration camps often remains unrecognized. There is also little reflection on the implications of the potential trauma of being interned, the sometimes unclear chains of transmission, archival practices, and the understanding of these poems as historical descriptions of factual events.
Against the background of theoretical discussions of the phenomenon of the concentration camp, their potential as sites of trauma, and how European camp literature is dealt with in scholarly and literary debates, the author shows the extent to which these Libyan poems represent much more than mere descriptions of facts and how a critical distance to what is reported does not necessarily mean doubting the credibility of the poets. Rather, the poems represent literary works in the tradition of nomadic poetry; they are Arabic camp literature and thus offer subjective descriptions of suffering and the state of exception in the concentration camp.
Rather than interpreting this poetry as a basis for the formation of an anti-colonial nationalist narrative, the author aims to recognize the poetry as a testimony to suffering. Camp literature as a global phenomenon shows how differently trauma and suffering were and still are negotiated. In this respect, poems about Italian concentration camps are impressive testimonies that, embedded in the Arabic nomadic poetic tradition, show the specific ways in which the poets dealt with their experiences. In this way, first-person perceptions of suffering were captured that can be confronted with European colonial historiography and bias.
“Ein leises Geräusch, wie ein Gefühl des Sehnens”, so beschreibt ein Dichter die Schiffsgeräusche, während er – mit anderen Leidensgenoss:innen an Deck versammelt – zum berüchtigten Lager al-ʿAgīla deportiert wird. Die Geschichte der italienischen Konzentrationslager in der Kolonie Libia wird unter anderem über die Lagerdichtung erzählt, die von Überlebenden überliefert und im postkolonialen Libyen archiviert und in Teilen publiziert wurde. In der historischen Erforschung dieser Lager steht oft der Anspruch im Zentrum, sich von der eurozentrischen Kolonialgeschichtsschreibung zu lösen und dem Mythos des harmloseren italienischen Faschismus zu begegnen.
Die überlieferten Gedichte spielen hierbei eine zentrale Rolle, da sie als originäre, libysche Stimmen verstanden werden, die eine Gegenerzählung zu europäischen Narrativen bilden. Dabei tritt die literarische Bedeutung dieser Gedichte, die berührende Erzählungen subjektiven Leids in der Erfahrung des Konzentrationslagers darstellen, häufig in den Hintergrund. Auch die Implikationen, die mit dem potenziellen Trauma des Interniert-seins einher gehen, die bisweilen unklaren Überlieferungsketten, der Archivierungspraxis und nicht zuletzt das Verständnis dieser Gedichte als historische Faktenbeschreibungen werden kaum reflektiert.
Der Autor zeigt vor dem Hintergrund theoretischer Auseinandersetzungen mit dem Phänomen des Lagers, seiner traumatisierenden Potenziale und dem Umgang mit etwa europäischer Lagerliteratur, inwieweit die überlieferten Gedichte weit mehr als schlichte Tatsachenbeschreibungen darstellen und eine kritische Distanz zum Berichteten nicht zwangsläufig Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Dichter:innen bedeutet. Die Gedichte stellen vielmehr literarische Werke in der Tradition der nomadischen Dichtung dar, sie sind arabische Lagerliteratur und somit subjektive Schilderungen von Leid und Ausnahmezustand im Konzentrationslager.
Anstatt die untersuchte Dichtung als Grundlage für die Bildung eines antikolonialen nationalistischen Narrativs zu verstehen, plädiert der Autor für eine Anerkennung der Dichtung als Zeugnis des Leidens. Lagerliteratur als globales Phänomen zeigt, wie verschieden Trauma und Leid verhandelt wurden. Die Gedichte über die italienischen Konzentrationslager sind in dieser Hinsicht beeindruckende Zeugnisse, die – eingebettet in die arabisch-nomadische Dichtungstradition – ihren ganz eigenen Umgang mit den Erfahrungen der Dichter:innen finden. So gelingt eine Wahrnehmung des Leids auf Augenhöhe, die die europäische Kolonialgeschichtsschreibung aus einer gänzlich anderen Perspektive mit ihrer Befangenheit konfrontiert.